Der verrückte Salon
Bericht aus der Autostadt Wolfsburg

Wie ein Raumschiff ist Zaha Hadids kunstvoller Bau mitten im Niemandsland zwischen Bahnhof und dem Mittellandkanal gelandet. Der amorphe Bau, der eher einer Pflanze als einer Immobilie ähnelt, leuchtet nachts quallenähnlich in wechselnden Farben. Er steht mit zehn Pfoten in der Landschaft und äugt aus tausend viereckigrunden Luken auf die Stadt. Zwischen seinen Pfoten ist ein grosser Stadtraum entstanden, Arena und Fussgängerzone in einem.

Sturmtief Xavers letzte Muckser pfeifen durch den weiten Bauch und beissen sich an meinen Ohren fest. Wir suchen schnellstmöglich den Eingang, schweben auf steilen Rolltreppen hoch in den Bauch des Baus. Dort erwartet uns eine rund 7000m2 grosse Erlebnislandschaft mit über 250 interaktiven Exponaten, an denen Phänomene des Lebens, der Sinne, der Physik und Elektronik entdeckt werden können. Es gibt den grössten künstlichen Feuertornado und einen Roboter, der Goethe rezitiert. Ausserdem ein Heer von Angestellten, die den durch die Landschaft tobenden Schulkindern hinterher reparieren.

Mein persönliches Highlight ist der verrückte Salon: ein schmaler Gang führt schräg nach oben um die Ecke in einen kleinen Salon, an dessen Wände Bilder hängen. Sein Boden ist aus der Achse gehoben, die Bilder parallel zum Boden gehängt. Sobald ich den Fuss in diesen Salon setze, gerät mein Körperkompass augenblicklich aus dem Lot, alles wirbelt drunter und drüber, ich kann weder gehen noch stehen und mich nur mit grösster Anstrengung vorwärtsbewegen. Am liebsten würde ich mich auf den Boden legen und die Augen schliessen. Es ist radikaler, als wenn mir der Teppich unter den Füssen weg gezogen worden wäre. Mich erschüttert nicht zuletzt die Erkenntnis, wie leicht es gelingt, das eigene Koordinatensystem zu zerstören, wie fragil , ja wie heimtückisch virtuell die eigene Standfestigkeit offenbar ist, auf der man in jeder Sekunde des Lebens – jedenfalls sobald man aufrecht gehen kann - baut. Nichts als Schein, nichts als ein kluges Zusammenspiel zwischen Auge, Ohr und Gehirn! Ich verlasse den verrückten Salon um eine prägende Erfahrung reicher und den Quallenbauch empfinde ich noch lange als schwankendes Schiff, bis meine innere Wasserwaage wieder ihre ausgeglichene Position gefunden hat.

Bevor ich kirre werde ob dem Flackern und Flirren meines Gehirns, verlassen wir das Raumschiff und setzen uns erneut den Nadelstichen Xavers aus.

Über lange Laufbänder überqueren wir den Mittellandkanal. Trotz Xavers Aggressivität bleibe ich am Ende des Laufbands stehen. Links erheben sich vier Hochöfen mit Kaminen, die mit Qualmzungen die Wolken lecken, geschmückt vom weithin sichtbaren blauweissen Auto-Logo. Dahinter dehnt sich entlang des Kanals - soweit das Auge reicht-  die aus roten Ziegelsteinen gebaute Produktionsanlage. Vor mir die Autostadt mit den beiden runden Autotürmen aus Glas, aus denen die neuen Autos wie farbige Bonbons leuchten, sowie zahlreiche durch ihre Architektur auffallende Gebäude, die zwischen einer aufwändig gestalteten Garten- und Wasserlandschaft liegen, verbunden durch Gehwege, die über die Wasser führen. Wir betreten die riesige Eingangshalle des Empfangshauses. Schnell wird klar, mit welchen Massstäben hier gebaut worden war: die Halle ist gigantisch, strebt hoch hinaus, gibt die Dimension vor und ist Indikator der wirtschaftlichen Potenz. Wir verlassen den Eingangsbereich, um den ersten Pavillon, die Konzernwelt, zu besuchen. Zwischen der Wasserlandschaft bilden die Häuschen eines Weihnachtsmarktes einen rustikalen Kontrapunkt zur modernen Pavillon-Architektur, dahinter toben sich Kinder, von zahlreichen in gelbe Leuchtjacken gekleidete Mentoren begleitet,  auf einer künstlich errichteten Schneebergelandschaft aus.

Ich kann den Blick nicht von den Hochkaminen lösen. Mit ihren ziegelsteinroten runden, sich gegen oben verjüngenden Fassaden, sind sie ein ästhetischer Hochgenuss. Gleichzeitig lösen sie in mir ein komplementäres Gefühl aus, ein beunruhigendes Schaudern ob ihrer monumentalen Gewalt und Macht.

Wir betreten die Konzernwelt. Eine Halle, mehrere Etagen hoch. Wie eine Himmelsleiter führt eine steile Rolltreppe in den oberen Stock, wo der Rundgang beginnt. Unten das Kinderparadies mit Kletterparcours und Kinderautoland für jedes Alter. Im Gastrobereich dekorieren Kinder Lebkuchen, während die Mütter ihnen zuschauen.

Engelsblonde Hostessen in zigfacher Ausführung nehmen uns in Empfang und weisen den Weg. Auf grossen Monitoren lächeln mir gut frisierte Männer und Frauen in adretten Kleidern auffordernd entgegen. Auf Knopfdruck erklären sie mir die Börse, Wirtschaft und so. Daneben ticken die Aktienkurse. Die Innendekoration ist hell und glänzend, geschwungene Linien führen in und durch die Räume. Alles ist edel wie eine Luxuskarosserie. Die freundlichen Hostessen strecken mir ihr Pepsodent-Lächeln entgegen und eilen beim kleinsten Verrutschen meines Gesichts in Richtung Fragezeigen hilfsbereit zur Stelle.
Ich berühre ein kleines weisses Ölfass und Andy, Strichmännchen und Keksfabrikinhaber, erklärt mir in wenigen Worten, wie Preissicherheit im Rohstoffgeschäft zustande kommt. Aha.

Einen Stock tiefer erstreckt sich eine gewaltige Ausstellungsfläche zum Thema Umweltschutz und Nachhaltigkeit. Ein grünes Astwerk aus polierten Bändern rankt sich über Boden, Wände, den Decken entlang und quer durch die Räume. Seine Blüten sind interaktive Touchscreens, die in wunderbar ausgeklügelten Animationen die Grundlagen der ökologischen Zusammenhänge erklären. Hier lässt sich zu Zweit oder zu Dritt mittels nachhaltiger Massnahmen spielerisch eine Insel vor dem Versinken in den steigenden Fluten retten, dort messe ich meinen ökologischen Fussabdruck und erfahre, dass es für meinen Lebensstil 3,2 Erden braucht, falls alle Menschen so leben würden wie ich. Aha.

Wir spazieren über die Gehwege von Pavillon zu Pavillon, besuchen die unterschiedlichen Tempel und testen modernste Ausstellungstechnologien. So sehen Ausstellungen aus, wenn Geld keine Rolle spielt, sagt Tom.

Zum Abschluss Porsche. Der Pavillon fischt mit langer Betonzunge im Teich. Den Eingang schmückt ein Zitat von Herrn Porsche.  Man nähert sich der Arena von oben. Bewegt sich entlang der Geschichte der Automobil- und Designerdynastie Porsche, welche von Zeit zu Zeit mit lautem Gedröhne auf eine schwungvolle Leinwand an die Wand gebeamt wird. Eine silberne Strasse führt vom ersten Porsche-Modell in Kinderwagengrösse über alle weiteren Modelle bis zum Zentrum. Dort stehen sie, die drei neuen Porsche-Modelle. Ein Paar, noch gar nicht so alt, lässt sich mit grossem Interesse den Porsche Cayenne SUV zeigen. Ich lehne mich an die Brüstung und schaue der Inszenierung zu. Hostessen öffnen die Türen, ein Verkäufer erklärt das Navi. Der potentielle Käufer setzt sich in den Wagen, der Verkäufer auch. Er lässt laut Musik laufen. Verzückte Gesichter. Seine Frau steht draussen und strahlt. Ich schätze, dass die Karre 125‘000 CHF kostet. Die Angaben zum Co2-Verbrauch sind bei diesen Modellen hinter dem hinteren Rad platziert. Schön unsichtbar.

Hier wird Luxus inszeniert. Und Reichtum. Ich weiss nicht, was mehr im Zentrum dieser Inszenierung steht: der teure Wagen oder der reiche Kunde?

Wir stehen draussen in der eisigen Kälte. Es ist Nacht geworden. Und plötzlich steigt der Gehweg vor mir steil an, biegt in einen engen Salon ein, mit Screens an den Wänden. Sein Boden ist aus der Achse gehoben, die Screens hängen parallel zum Boden. Das kann doch nicht sein! Wo bin ich? Ver-rückt! Ich torkle und höre, wie ein Geräusch immer lauter wird. Es sind Stiefel, die marschieren. Viele Stiefel. Es rumpelt und rattert. Ein Radio knattert. Ich lehne mich an die Wand und versuche mein inneres Koordinatensystem zu justieren. Da flackert der erste Bildschirm auf, ich sehe Adolf Hitler hinter einem steinernen Rednerpult mit eingraviertem Hakenkreuz. Dahinter Soldaten, Männer in Zivil und noch viel mehr Hakenfahnen. Es ist der 26. Mai 1938. Hitler legt den Grundstein des Volkswagenwerkes. Vorne rechts ein Mann in Zivil. Er hält seinen Hut in der Hand. Aha. Der SS-Oberführer und Wehrwirtschaftsführer Ferdinand Porsche. Er hat die VW-Werke aufgebaut.
Am 1. Juli 1938 wurde per Verordnung die „Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben“ gegründet. Hitler und Speer engagierten den Architekten Peter Koller, eine nationalsozialistische Musterstadt zu entwerfen. Sie durfte keine Kirchen enthalten. Dafür eine Residenz für Hitler. Und Prachtstrassen für die Paraden der NSDAP.
Dann wird der Bildschirm schwarz. Fallersleben. Irgendetwas klingt in mir an, wie eine verborgene Saite, die gezupft wird. Aha. Fallersleben. Hoffmann von Fallersleben. War das nicht der Dichter des Deutschlandliedes? Und schon höre ich es, mit kehliger Stimme gesungen: Deutschland, Deutschland über alles.

Mir wird übel, ich richte mich auf, möchte weg. Aber meine Beine sind schwer. Mein innerer Kompass zerbrochen, alles geht drunter und drüber. Da zuckt es im zweiten Bildschirm an der Wand. Ich höre Kriegslärm. Da ist er wieder, der Herr Porsche. Hitlers Lieblingsingenieur. Er hatte sich sehr in der Rüstungsindustrie engagiert. Die Volkswagenwerke wurden im Krieg auf die Produktion von Rüstungsgütern umgestellt. Auch unter Einsatz von Tausenden von Zwangsarbeitern, die im KZ Arbeitsdorf zwangsinterniert worden waren. Für ihre Kinder wurde von der VW-Betriebsleitung eine „Ausländerkinder-Pflegestätte“ eingerichtet. Hunderte Kinder wurden dort untergebracht, kaum eines verliess das „Heim“ lebendig.
Am 11. April 1945 wurde das Werk von den Alliierten in einem Luftangriff zu zwei Dritteln zerstört.

Ich richte mich auf. Zwinge mich, unternehme einen Grossangriff gegen die Schwerkraft und mache einen weiten Schritt, um dem ver-rückten Salon zu entkommen. Da ruft Tom: „Pass auf, du fällst noch ins Wasser!“ Ich schaue erschrocken auf. Es ist Nacht geworden. Der erste der vier Hochkamine ist glutrot beleuchtet. Die Bäume erstrahlen in weihnachtlichem Glitzerlicht. Das Wasser einen Schritt vor mir kräuselt sich unter Xavers eisiger Hand. Vom Schneeberg her kreischen vergnügte Kinderstimmen, es riecht nach Glühwein, irgendwo trällert eine Weihnachtsmelodie. Am Rand des künstlichen Eisfelds warten frierende Zuschauer auf die grosse Abend-Show. Ein Samichlaus winkt mir zu.

Wir kämpfen uns gegen den Sturmwind Richtung Bahnhof. Die Qualle leuchtet rot und grün und während wir auf den Zug warten, wechselt sie zu blau und pink.