Interessengebiet

von Martin Amis

Auf dem Umschlag dieses Buches müsste stehen:
Lesen dieses Buches kann Ihre Gesundheit schädigen, mit Nebenwirkungen wie Schwindel, Kopfschmerzen und Übelkeit ist zu rechnen. Es empfiehlt sich, den Stoff in kleinen Dosen einzunehmen.

Die Geschichte wird aus der Perspektive dreier unterschiedlicher Figuren erzählt: Die erste Person und eigentliche Hauptfigur ist der Verbindungsoffizier Golo Thomsen, ein Neffe Martin Bormanns, welcher ein Vertrauter Hitlers war und seine Hand schützend über seinen Neffen hält. Paul Doll, Lagerkommandant des KZ und Rudolf Höss nachgebildet sowie Szmul, Führer eines jüdischen Sonderkommandos, welches bei der Massenvernichtung assistieren musste. Die Geschichte ist vordergründig als Liebesgeschichte aufgebaut: Golo Thomsen verliebt sich in Hannah, die Frau von Doll, der davon Wind bekommt und aus Rache den Juden Szmul mit dem Mord an seiner Frau beauftragt. Die Geschichte ist banal und so alt wie die Menschheit, was sie ungewöhnlich macht, ist die Kulisse und die Zeit, in der sie spielt: das KZ Auschwitz - Birkenau, in den Jahren 1941-43.
Wenn man an Auschwitz denkt, gedenkt man der Opfer, ihrem unsäglichen Leid, ihrer Qualen, ihrer Vernichtung. Vielleicht reflektiert man auch den immensen bürokratischen Apparat, Eichmann und das gigantische Räderwerk, welche die Ungeheuerlichkeit der Vernichtung von sechs Millionen Menschen organisiert hatten.
Der Brite Martin Amis rückt die Täter, ihren Alltag, ihre Gedanken und ihr Begehren ins Zentrum. Er tut dies in britischer Manier: mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor, grotesk, derb und hart an der Schmerz- und Kotzgrenze.
Da blubbern Wiesen voller Leichen vor sich hin, zählen Sonderkommandos nächtelang Oberschenkelknochen, um Bericht erstatten zu können, ob 100’000 oder 150’000 Leichen daliegen, bewirken kaputte Krematorien Stau an der Rampe, färbt sich der Schnee braun von der Asche, erzählt man den Ankommenden, dass sie ihre Diätwünsche später anmelden können, sie aber zuerst duschen müssten. Und über allem liegt dieser Geruch, der den Ort des Grauens durchdringt und markiert.
Und wieder überfällt mich beim Schreiben dieser Zeilen die Verunsicherung, welche mich auch beim Lesen stets begleitet hat: entspringt diese Story dem Hirn eines provokativen Autors (wie manche Rezensionen unterstellen) oder schildert er bloss zugespitzt, drastisch, derb und ungeschönt die Groteske der Realität dieses Ortes, damals?
Ich besuchte Auschwitz dreimal, ich kenne die Fakten: Die Wiesen und Weiher sind gigantische Massengräber (der Verwesungsprozess muss zwangsläufig sicht-, hör- und riechbar gewesen sein), die Krematorien liefen im Dauerbetrieb und auf Hochtouren und mit grösster Wahrscheinlichkeit nicht störungsfrei (einen Menschen zu verbrennen braucht Zeit und hinterlässt Spuren - auch im Schnee) - und dass der ganze Schreckensort eine einzige grauenhafte Inszenierung aus blankem Zynismus und paranoidem Wahn gewesen sein muss, davon zeugt nicht zuletzt das Lagerorchester, das seinen festen Platz hatte und morgens und abends die Arbeitskolonnen der Gefangenen begleitete.
An der Rampe von Auschwitz stehend habe ich mich immer und immer wieder gefragt, wie es möglich war, dass eine Handvoll SS-Leute einen Zug mit 800 Ankömmlingen in Schach halten konnte. Wie war es ihnen gelungen, sie wie Lämmer zur Schlachtbank zu führen? Wieso gab es kaum Gegenwehr? Amis liefert die zynische Antwort: indem man ihnen haarsträubende Lügen auftischte. Wenn sie sich über die mangelnden sanitären Einrichtungen in den Zügen beschwerten, bedauerte man sie und versprach ihnen eine wohltuende Dusche und stellte ihnen Ruhe und gutes Essen in Aussicht. Und die dem Tode Geweihten liessen sich ahnungslos durch den Birkenwald in die Gaskammern führen. So erklärte Rudolf Höss in seinen Zeugenaussagen, dass er nach einem Besuch in Treblinka und der Kenntnisnahme der dortigen Schwierigkeiten bei der Massenvernichtung die Vernichtung in Birkenau so organisieren wollte, dass die Opfer absolut im Unklaren darüber gelassen würden, dass ihnen ihre Vergasung bevorstünde. (Etwas sind wir Nach-Auschwitz-Geborenen uns vielleicht zu wenig bewusst: Die Möglichkeit der systematischen Massenvernichtung, diese Möglichkeit war für die Vor-Auschwitz-Geborenen schlicht nicht denkbar. Es war etwas noch nie Dagewesenes, das jegliches menschliches Vorstellungsvermögen überstiegen haben musste. Wir Nach-Auschwitz-Geborenen sind mit dieser Möglichkeit verseucht. Wir wissen, der Mensch ist dazu fähig und er hat es getan.)
Amis reiht den Alltag der in Auschwitz lebenden und arbeitenden Nazis in harten Schnitten an den realen Horror der Massenvernichtung und des Lagerlebens. Die Doll-Kinder halten sich im Garten Schildkröten und Ponys, die erkranken und gepflegt werden müssen, das Nazikader trifft sich an Abendkonzerten und Ilse Grese, der legendäre (reale) Drachen von Auschwitz, führt ein luderhaftes Leben und steigt reihenweise mit den Nazischergen ins Bett. Die Banalität dieses Alltags vor der Maske des Horrors ist hart an der Grenze des Erträglichen - aber so war es nun mal, so ist das Leben. Es gab Liebe in Auschwitz, es gab Kinder, die dort aufwuchsen, es gab Hausfrauen, die Wäsche aufhängten und sich über den Ascheregen ärgerten. Denn Auschwitz ist nicht bloss eine Metapher, ein Topos, Auschwitz-Birkenau war ein gigantisches Unternehmen, welches gemanagt werden musste und unzähliger Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bedurfte.
Das Buch hat mich erschüttert, nicht weil Amis sich eine Satire an diesem Ort erlaubt, sondern weil ich Dinge erstmals wirklich begriff, die ich trotz jahrelanger Beschäftigung mit dem Holocaust, vorher nicht mit dieser Klarheit gesehen habe. Beispielsweise der unglaubliche Wahn, die Paranoia, womit die Nazis befallen waren, wenn es um die Begründung der Massenvernichtung ging. Ihre Anschuldigungen gegen die Juden entbehrten jeglicher Rationalität, und ihnen war mit rationalen Argumenten nicht beizukommen. Wissenschaft und Rationalismus wurden ersetzt durch esoterische Hirngespinste mit fatalen Folgen für die Weltgeschichte.
An dieser Stelle hat mich vor allem ein Bezug zur Aktualität entsetzt: Ich erlebe ähnliche Mechanismen im Umgang mit Asylbewerbern in der Schweiz. So stimmte die Mehrheit der Schweizer Bevölkerung gegen Minarette, obschon es in der Schweiz keine fünf Minarette gibt, so werden Burkaverbote diskutiert, obgleich ich in der Schweiz noch nie eine Frau in Burka gesehen habe, so werden Kriminalität und Ethnie miteinander verwoben, obschon die Mehrheit der in der Schweiz lebenden Ausländer und Ausländerinnen nicht kriminell sind. Und den Akteuren dieser verhängnisvollen Entwicklungen scheint mit Argumenten nicht beizukommen.
Das Buch hat mich auch erschüttert, weil es mit aller Deutlichkeit zeigt, wie eng patriarchale Denkmuster und sexuelle Gewalt mit Krieg, Massenvernichtung und faschistischer Ideologie gekoppelt sind. Die Passagen des Buches, die Einblick in die Familie Bormann bieten, sind diesbezüglich auf ekelhafte Art aufschlussreich.
Besonders verstörend finde ich, wie Amis die Figur des Kommandanten Paul Doll zeichnet. Doll ist ein Kotzbrocken par excellence, aber der Autor verzichtet darauf, ihn bloss als Ekelpaket zu karikieren. Dolls Psychologie ist klug gezeichnet und nachvollziehbar. Doll ist letztlich ein kleiner Möchtegernegross, ein Durchschnittsmensch, hart an der Überforderung, von seiner Frau verachtet, von der Nazielite als unzulänglich klassifiziert, der seine Defizite mit Alkohol und Sex kaschiert, der die Rampe psychisch kaum erträgt und seine schier unendliche Macht über Leben und Tod katastrophal missbraucht, um sein Leben und sein Unvermögen für sich erträglicher zu gestalten.

Martin Amis ist ein wichtiges Buch gelungen, ein schwieriges und anspruchsvolles - bei weitem keine leichte Kost. Es ist lange her, dass mich Literatur so aufgewühlt und zum Nachdenken bewegt hat.

Martin Amis, Interessengebiet, kein & aber Verlag, 2015
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
ISBN: 978-3-0369-5724-1