Auschwitz - Birkenau

Neulich war ich mit meinem Patensohn in Auschwitz. Wir sind mit dem Zug gereist. - Ist es nicht so, dass man nach Auschwitz ausschliesslich per Zug fahren darf? Europa durchquerend erfahren wir eine Zeitreise. Eine Nacht lang dem gleichmässigen Rhythmus der Räder ausgesetzt sein, bei zugezogener Store Stimmen auf Bahnhöfen in fremden Sprachen lauschen und Klängen vor den Durchsagen zuhören, die aus scheppernden Lautsprechern durch die Träume sägen. Hin und wieder die Store ein wenig beiseite schieben und einen Blick auf Ortsnamen erhaschen, irgendwo im Nirgendwo des geschundenen Kontinents. Eine Zeitreise zurück zu jenen überfüllten Güterwaggons, die mehr standen als fuhren, in denen Menschen zusammen gepfercht schwitzten, hungerten, nach Atem rangen, nach Wasser lechzten und starben.

Frühmorgens Ankunft in Oswiecim. Am Bahnhof sieht es aus, als wäre der eiserne Vorhang nie gefallen. Das Hotel Kosmos bröckelt vor sich hin, die Storen hängen schief, ein paar Fenster sind eingeschlagen, doch die Lobby scheint bedient. Ein durchaus liebenswürdiger Pole spricht uns auf der Strasse auf Deutsch an und offeriert uns, Zlotys zu organisieren, dazu bräuchten wir ihm bloss unsere Kreditkarte zu überlassen. Wir lehnen ab und bedanken uns freundlich.

Ein paar Stunden später stehen wir vor dem berühmten Tor mit dem berüchtigten Schriftzug. Wir wälzen uns mit hunderten von Touristen durch die polnische Kasernenstadt, deren Ziegelsteinarchitektur mit den alten Laternen, den Wachtürmen und Stacheldrahtabschrankungen etwas schrecklich ästhetisches hat, für dessen Wahrnehmung man sich augenblicklich schämt. In den Ausstellungen herrscht Einbahn-Verkehr. Vor den Vitrinen mit den Haaren, die man den Opfern abgeschnitten hatte, stockt die Schlange. Es ist still. Fotografieren verboten. Man wird nur noch in geführten Gruppen in die Stätte des Grauens gelassen. Die Führer (oh welch komprimitiertes Wort in diesem Kontext!) sprechen leise in den Sprachen der Touristen in ihre Headphones. Die Besucher hören schweigend zu. Niemand spricht. Die Klösse in den Hälsen der Besucher sind nahezu sichtbar.

Tags darauf besuchen wir Auschwitz II - Birkenau. Ein riesiges Gelände, so weit das Auge reicht, umgeben und unterteilt von Stacheldraht, ehemals bebaut mit hunderten von Holzbaracken, von denen nur noch die Ziegelsteinkamine stehen, die wie Mahnfinger gen Himmel zeigen. Die Geleise führen durch das hohe Tor hinein und zerschneiden das Gelände mitten durch. Dort sind die Rampen. Eine Foto zeigt einen SS-Arzt vor der zerlumpten Schar eines eben angekommenen Transportes. Er streckt kaum merklich den Daumen in die eine Richtung. In die Richtung des Todes. Eine Gruppe Jugendlicher stampft in israelische Fahnen gekleidet an uns vorbei. Weit vorne bei den Krematorien treffen wir sie wieder an. Aus einem scheppernden CD-Player dröhnt die israelische Landeshymne, am Ende der Geleise liegen riesige Kränze mit blauen Davidsternen geschmückt.

Birkenau, das sind auch lauschige Auen, saftige Wiesen, in den Herbstfarben leuchtende Wälder und malerische Tümpel. Nur dass in den Tümpeln die Asche von hunderttausenden von Menschen ruht, in den Auen die Überreste der Krematorien liegen, in den Wäldern Massenerschiessungen stattfanden und auf den saftigen Wiesen die Asche der Kremierten verstreut wurde. Birkenau ist ein einziger immenser Friedhof. 1,2 Millionen Menschen (vielleicht auch mehr) wurden hier ermordet. 

Birkenau, das ist der Ort, wo nicht nur die industrielle Menschenvernichtung vollzogen, sondern auch die systematische Entmenschlichung durchgeführt wurde. Es gibt einen Ort in Birkenau, wo dieser Prozess erfahrbar wird. Er liegt weit weg von den Geleisen, hinter dem sogenannten Canada, wo damals die Besitztümer der Häftlinge gelagert, sortiert und wieder verwertet wurden. Im sogenannten Sauna-Gebäude. Jedesmal, wenn ich Auschwitz besuche, erschüttert mich dieser Ort zutiefst.

In das Saunagebäude wurden diejenigen angekommenen Häftlinge geführt, bei denen der Daumen des SS-Arztes nicht in Richtung Tod gezeigt hatte. Im ersten Raum mussten sie sich nackt ausziehen. Im zweiten Raum wurde ihnen die Haare geschnitten. Mit stumpfen Klingen. Und alle Körperhaare. Nicht einmal Verwandte erkannten einander so wieder. Im dritten Raum wurde ihnen die Nummer eintätowiert. Im vierten Raum wurden sie geduscht. Gerne mit kalten oder brühend heissem Wasser. Im fünften Raum mussten sie solange stehen bleiben, bis sie trocken waren. Im sechsten Raum erhielten sie löchrige Kleider und zu kleine Schuhe. Im siebten Raum wurden sie auf die Baracken und Arbeitskolonnen verteilt. Nun waren sie keine Menschen mehr. Sondern KZ-Häftlinge.

Auschwitz kann man nicht begreifen. Aber wenn man sich einen Tag lang körperlich den Dimensionen von Auschwitz II Birkenau aussetzt, die Stätte ausführlich besucht, die Baracken besichtigt, über die Auen, durch die Wälder und entlang der Tümpel wandert, sich auf die Ruinen der Krematorien setzt - dann stellt sich ein körperliches Gefühl ein, das am ehesten als eine Ahnung beschrieben werden kann. Eine Ahnung davon, was sich hier und in ganz Europa vor 70 Jahren abgespielt hat.

 

 

 

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